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Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher Landtag 30.10.2020: „Drohender gesundheitlicher Notstand“

Es gilt das gesprochene Wort

- Erschienen am 30.10.2020 - Presemitteilung Rede
Ministerin Nonnemacher bei ihrer Rede im Landtag Brandenburg am 30.10.2020

Aus der Antike ist die sogenannte Reiskornparabel überliefert: ein Weiser erbittet von einem indischen König als Belohnung ein Reiskorn auf das erste Feld eines Schachbrettes, zwei auf das zweite, 4 auf das dritte, acht auf das vierte und so fort. Die Menge auf dem 64. Feld würde der Weltjahresernte an Reis über mehrere Jahrhunderte entsprechen. Die Parabel dient zur Veranschaulichung von Exponentialfunktionen: wie aus lächerlich kleinen Zahlen nach nur wenigen Verdoppelungszyklen unvorstellbar große Mengen werden können.

Ähnlich verhält es sich mit den Neuinfektionszahlen bei Sars-CoV-2 im exponentiellen Wachstum. Während wir in Deutschland nach den erfolgreichen Eindämmungsbemühungen im Frühjahr Mitte Juli einen Tiefstand erreichten mit z.B. 248 Neuinfektionen innerhalb eines Tages am 12. 7., waren es am 8. September bereits 1499, gestern 16.774 und heute 18681. Die von Bundeskanzlerin Merkel Ende September prognostizierten 19.200 Neuerkrankungsfälle zu Weihnachten haben wir also mittlerweile schon beinahe erreicht. Das Infektionsgeschehen läuft mit geradezu beängstigender Dynamik mit Verdoppelung der Infiziertenzahlen in etwa sieben Tagen.

Für Brandenburg zeigt sich ein analoges Bild: der im Frühjahrslockdown jemals ermittelte Höchstwert an Neuinfektionen lag bei 187 pro Tag am 3. April. Am 30.4. verzeichneten wir 25 Neuinfektionen, am 15. Juli 3, am 1. September 5 und heute 422! Während wir am 15. Juli eine 7-Tage-Inzidenz von sage und schreibe 1,0/100.000 hatten, liegt sie heute brandenburgweit bei knapp 67,5/100.000. Zwölf von 18 Kreisen und kreisfreien Städten waren gestern als Hotspots mit über 50/100.000 ausgewiesen, heute sind es 16. In Elbe Elster, einem Kreis in dem Infizierte vor kurzer Zeit noch mit der Lupe zu suchen waren, beträgt der Wert 125,7/100.000. Auch bei uns im Osten färbt sich die Landkarte des rki zunehmend rot ein!

Nun behaupten die Coronaleugner, dies liege nur daran, dass viel häufiger getestet werde! Dazu ist zu sagen, dass im Vergleich zu Mitte Juli die Zahl der Tests letzte Woche um 167% angestiegen war, sich die Zahl der Infektionsfälle aber um 2871% vermehrt hatte. Oder andersherum ausgedrückt: die Rate positiver Tests lag Mitte September bei 0,9%, vor zwei Wochen bei 3,6% und letzte Woche bei 5,6%.

Daraufhin ist zu hören, dass dies völlig irrelevant sei, da ja überwiegend junge Leute mit leichten Verläufen erkrankten und dies überhaupt kein Problem darstellen würde. Solange keine hohe Zahl an Intensivpatienten oder Toten vorliege, gäbe es überhaupt keinen Grund, in die Lebensgestaltung der Bevölkerung einzugreifen!

Abgesehen davon, dass ich als Gesundheitsministerin diese Argumentation unerträglich finde, gibt es dazu viel zu sagen! Es ist richtig, dass während der Sommermonate das Infektionsgeschehen sich überwiegend in einer reise- und kontaktfreudigen jüngeren bis mittelalten Bevölkerungsgruppe ausbreitete und der Anteil an schwererkrankten, hospitalisierten Covid-Patienten oder gar Todesfällen niedrig war. Das Blatt wendet sich aber gerade dramatisch! Die deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin zählt augenblicklich in Deutschland 1700 Covid-Patienten auf Intensivstationen, von denen die Hälfte beatmet ist. Vor drei Wochen waren es noch ein Viertel, die Zahl der Intensivpatienten und auch der Verstorbenen steigt mit der der Erkrankung eigenen Latenz von 2-4 Wochen ebenfalls exponentiell an. In Brandenburg sind heute 52 Intensivbetten belegt. In 14 Tagen werden wir die schweren Krankheitsverläufe auf unseren Intensivstationen haben. Schon jetzt ist die Belastung in Teilen der Bundesrepublik schlimmer als im Frühjahr. Auch in Brandenburg sehen wir diesen Effekt. Der Anteil der stationär Behandelten und der intensivmedizinisch Behandelten ist schon mit den Zeiten des Frühjahrs-Lockdowns vergleichbar und nachdem wir 4 Monate lang keinen einzigen zusätzlichen Covid-19- Todesfall zu beklagen hatten, steigt die Zahl der Todesfälle seit zwei Wochen wieder spürbar an. Und dies ist erst der Anfang!!! Durch die allgemein explodierenden Infektionszahlen steigt auch der Anteil an älteren und damit vulnerablen Personen wieder steil an.

Dabei ist nicht die Zahl der Intensivbetten oder Beatmungsgeräte das Problem. Da haben wir die Zeit und die Bundesförderung genutzt und unsere Kapazitäten deutlich auf 1028 Beatmungsplätze ausgeweitet. Das Problem wird nach übereinstimmender Aussage der Fachgesellschaften das verfügbare Fachpersonal sein! Ein beatmeter Covid-Patient bindet rechnerisch bis zu 5 Intensivpflegekräfte. Die vorbestehenden Personalengpässe werden limitierend sein und bei exponentiell steigendem Infektionsgeschehen fällt auch ein zunehmender Anteil Klinikpersonal wegen akuter Infektion aus.

Worauf wir zusteuern, das können wir mit Grausen bei unseren europäischen Nachbarn sehen. Von den 8 Ländern mit den weltweit höchsten Inzidenzen liegen 6 in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. In Frankreich hat gestern die Neuerkrankungsrate bei knapp 48.000 Personen gelegen, in Italien bei 27.000, in Polen bei einer Bevölkerung von 37 Millionen bei über 20.000. Überall dort sind drastische Eindämmungsmaßnahmen bis hin zu Ausgangssperren, Abriegelung von Städten und Schulschließungen in Anwendung. Wer zu lange wartet mit der Eindämmung des Infektionsgeschehens zahlt dafür einen extrem hohen Preis: viele Schwerstkranke und Tote, überlastetes Gesundheitssystem, noch stärkere Eingriffe in Grund- und Freiheitsrechte und noch stärkere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Entwicklung. Sowohl die Niederlande als auch Belgien schicken wieder Intensivpatienten nach Deutschland, da dort eine Versorgung nicht mehr garantiert werden kann. Frankreich und Polen haben um Unterstützung gebeten.

Wir können als politisch Verantwortliche in diesem Land nicht länger tatenlos zusehen, wie diese Erkrankungslawine unsere Gesellschaft und unser Gesundheitssystem erfasst. Der Schutz der körperlichen Unversehrheit und des Lebens sind überragende Verfassungsgüter. Deshalb müssen wir jetzt handeln und durch eingreifende konsequente Maßnahmen das allgemeine Infektionsgeschehen auf ein Maß zurückführen, dass es wieder beherrschbar macht und eine sinnvolle Kontaktnachverfolgung überhaupt wieder ermöglicht. Dazu bedarf es einer Reduktion der Gesamtzahl an Kontakten um mindestens 75%. Da ein breiter gesellschaftlicher Konsens und eine Erkenntnis aus der 1. Welle der Pandemie darin besteht, dass Schulen und Kitas weiter geöffnet bleiben sollen und die Wirtschaft keinen Total-Lock-down erleiden soll, müssen im Bereich der privaten Kontakte und des Freizeitverhaltens sehr erhebliche Einschränkungen geleistet werden. Das ist sehr schmerzlich, aber nach Ansicht der Landesregierung und vieler wissenschaftlicher und medizinischer Fachgesellschaften sinnvoll, angemessen und verhältnismäßig.

Das Vielfach gehörte Argument, man solle sich doch auf den Schutz der vulnerablen Gruppen beschränken und den Rest der Bevölkerung nicht mit Restriktionen belästigen ist zynisch und unsolidarisch! Allein die Bevölkerungsgruppe 60 plus zählt nach vielen Millionen. Hinzu kommen chronisch Kranke wie Diabetiker, Adipöse oder Immunsupprimierte, Mensche mit Behinderungen oder auch junge Menschen mit überraschend schwerem Verlauf. Zusammen machen  diese fast 40% der Bevölkerung aus. Denen zu sagen, ihr habt halt ein Problem, ist zutiefst menschenverachtend, ja sozialdarwinistisch.

Einer solidarischen Gesellschaft muss der Schutz aller ihrer Mitglieder höchstes Anliegen sein. Und deshalb ist das drastische allgemeine Eindämmen des Infektionsgeschehens der richtige Weg. „Flatten the curve“ ist erneut das Gebot der Stunde.

Gemeinsam  werden wir aber auch diese schwierigen Wochen überstehen, um dann im Jahr 2021 unterstützt durch bereitstehende Impfstoffe und den heraufziehenden Frühling diese entsetzliche Pandemie peu a peu in ihre Schranken zu weisen.

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Ident-Nr
Rede
Datum
30.10.2020